Lost In Page

Das untere Viertel des Mosaiks ist nüchtern in dunklem blau und weiß gehalten und gibt die Himmelsrichtungen Nord und Ost in weiß auf dem blauen Hintergrund an, dazwischen in der umgedrehten Farbkomposition die Aufschrift „HOME“. Doch so richtig kommt sie nicht zusammen, da das „E“ um 180° gedreht ist. Darüber befindet sich ein matt- pastellfarbenes Muster, eine impressionistisch anmutende fragmentierte Landschaft. Gemeinsam betrachtet wirken die beiden Ebenen fast technisch. Sowohl wegen der Pixelartigkeit der kleinen Mosaik-Kacheln, die matt wie sie sind, etwas verwittert aussehen, als auch wegen der nicht ganz stimmigen Schrift, erinnern sie an ein nicht richtig funktionierendes Anzeigendisplay – ein glitchendes. 

Das Cambridge Dictionary definiert „Glitch“ folgendermaßen: „a small problem or fault that prevents something from being successful or working as well as it should“ und nennt unter anderem „problem, difficulty, trouble“ als Synonyme. Während ein Zusammenbruch jedoch ein schwerwiegendes Problem bedeutet, bei dem in der Regel nichts mehr funktioniert, stellt der Glitch eher eine Verschiebung dar, bei dem das System trotz des Problems zwar weiterhin ausgeführt wird, allerdings nicht mehr auf eine ganz sinnvolle Weise. Das Innen und das Außen verhalten sich dabei nicht mehr synchron zueinander, was zu unerwarteten und bisweilen sogar beunruhigenden Ergebnissen führen kann. 

In der Ausstellung „Lost in Page“ versammelt Chenxi Zhong eine ganze Reihe von vertrauten, nostalgischen Motiven, die sie glitchen lässt. Das zu Anfang beschriebene Mosaik „HOMƎ“ nimmt dabei Bezug auf typische Dekorationen fürs Zuhause, die standardmäßig mit einfachen Aufschriften wie „Home Sweet Home“ versehen sind, um an prominenten Stellen im Haus platziert zu werden. In der Mosaikserie mit den vier Arbeiten „first second breeze“, „second second breeze“, „third second breeze“ und „fourth second breeze“ sind es hingegen Mühlen als typische Platzhalter für romantische Vorstellungen vom Landleben, die auf den Tafeln in verschiedenen Momenten der Bewegung mit einer Sekunde Abstand zueinander festgehalten sind. Die Mosaike selbst bleiben dabei allerdings nicht starr, sondern da sie aus perlmutt-glänzenden Kacheln gefertigt sind, verformt sich das Bild je nach Blickrichtung und Lichteinfall. Die Mühlenmotive lösen sich dann in einerLandschaft aus pastellenen quadratischen Pixeln wieder auf. 

Etwas abstrakter hingegen ist der Glitch in der Serie von Aquarellzeichnungen mit dem Titel „’Sorry Edward’ I said, splattering the tablecloth with jam“. Während im Titel eine Geschichte hinter den Bildern anklingt, die zu gleichen Teilen Erklärungen liefert wie noch neugieriger macht, sind die Aquarelle von herkömmlichen Geschirrhandtüchern inspiriert. Gestärkte, strahlend weiße Geschirrhandtücher werden allgemein als Zeichen von kontrollierter Heimeligkeit verstanden, doch hier ist es genau die Unordnung, das „splatter“ und die im Titel vermittelte widerständige Geste, die zelebriert wird. Die innere Logik der Arbeiten, die Chenxi hier versammelt, verhält sich also nicht synchron zu den Erwartungen an ihre Motive, sondern sie stellen eine Verschiebung und leichte Störung zwischen diesen Ebenen her. Laut der feministischen Theoretikerin Legacy Russell verfügt der Glitch, sowohl als digitale Struktur als auch als Denkfigur, über großes kreatives Potenzial und bietet die Möglichkeit einer Öffnung zu anderen Funktionsweisen hin, abseits binärer Formen und üblicher Erwartungen.

Im Glitch zeigt sich damit die Verweigerung, das Altbekannte und Vorausgesetzte weiterhin zu bedienen, die jedoch nicht nihilistisch, sondern am schöpferischen Erproben anderer Formen und Strukturen interessiert ist. Während jedoch bei einem technischen Glitch, selbst wenn er nicht nachvollziehbar ist, die Unterscheidung zwischen Innen und einem Außen in der Regel unkompliziert vornehmen lässt, setzen Chenxi Zhongs Arbeiten ganz bewusst noch weitere Ebenen dazwischen und erschweren damit die klare Einteilung. Besonders gut lässt sich dies bei dem Mosaik „Right Now, Right Here“ beobachten, bei dem im Vordergrund ein Raster steht, das an ein verzogenes Gitterfenster oder eine Karte erinnert. Hinter diesem Raster offenbart sich der Blick auf stilisierte Schneeflocken draußen. Oder in der Serie „Today is Tomorrow’s Yesterday“, wo ein Raster recht deutlich Fensterrahmen darstellt, hinter dem sich fragmentarische Landschaften im Zwielicht entfalten. Dies ist ein gelenkter und vermittelter Blick. Über reine Wiedergabe der Motive oder die Verfremdung der Erwartungen an diese geladenen Sehnsuchtsmotive hinausgehend, wird die Aufmerksamkeit viel mehr auf die Perspektive gelenkt, auf die Frage, wessen Blick, wessen Geschichten wir folgen. 

Indem Chenxi in ihren Arbeiten bekannte Motive glitchen lässt, stellt sie ihre Allgemeingültigkeit in Frage und verhindert damit gekonnt ihre gängige Romantisierung. Gleichzeitig zeugt ihr Umgang jedoch von einer feinfühligen und interessierten Beziehung mit ihnen und ermöglicht daher auch uns es ihr gleichzutun und uns in der Weite dieser Bilder zu verlaufen. 

Marija Petrovic 

Enquiry